Wenn Maschinen Beweise führen: Wie KI die Mathematik revolutioniert

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bildet der Beweis das Herzstück der Mathematik. Es handelt sich um ein strenges, logisches Argument dafür, ob eine bestimmte Aussage wahr oder falsch ist. Der Erfolg von Mathematikerinnen und Mathematikern wird inzwischen oft daran gemessen, welche und wie viele Theoreme sie bewiesen haben. Sie verbringen einen Großteil ihrer Zeit damit, neue Einsichten zu gewinnen, damit ein Beweis funktioniert, und diese Intuitionen dann schrittweise in Folgerungen zu übersetzen. Dabei fügen sie verschiedene Argumentationslinien wie Puzzleteile zusammen.
Die besten Beweise sind regelrechte Kunstwerke. Sie sind nicht nur präzise, sondern auch elegant, kreativ und schön. Sie verkörpern dadurch eindeutig eine menschliche Handlung – unsere Art, der Welt einen Sinn zu geben, den Verstand zu schärfen und die Grenzen des Denkens zu ergründen und erweitern.
Zugleich sind Beweise von Natur aus rational. Als Forschende Mitte der 1950er Jahre erste KI-Programme entwickelt haben, hofften sie, das Beweisen von Theoremen automatisieren zu können. Und tatsächlich erzielten sie einzelne Erfolge. Eines der ersten KI-Programme konnte Dutzende von logischen Aussagen beweisen. Daraufhin folgten andere Computerprogramme, die Aussagen in der Geometrie, Analysis und anderen Bereichen belegten. Doch die Fähigkeiten dieser Beweismaschinen war begrenzt. Die Theoreme, für die sich Fachleute wirklich interessierten, überforderten sie. Und so nahm die mathematische Forschung denselben Verlauf wie Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zuvor: Einzelne Menschen dachten eine Aufgabe von Anfang bis Ende durch.
Das ändert sich nun langsam. In den vergangenen Jahren haben Fachleute mit Hilfe von KI-Modellen neue mathematische Muster aufgedeckt, Vermutungen aufgestellt und Gegenbeispiele zu alten Vermutungen gefunden. Und sie haben computergestützte Beweisassistenten entwickelt, die überprüfen, ob ein Beweis korrekt ist.
Bislang können die Systeme noch keine Beweise von Anfang bis Ende führen, aber das könnte sich schon bald ändern. Im Jahr 2024 stellte Google DeepMind ein KI-System vor, das bei der Internationalen Mathematik-Olympiade – einem angesehenen Mathematikwettbewerb für Oberstufenschüler – eine Silbermedaille gewonnen hat. Das große Sprachmodell ChatGPT von OpenAI hat bedeutende Fortschritte bei der Reproduktion von Beweisen und der Lösung anspruchsvoller Aufgaben gemacht, und auch andere maßgeschneiderte KI-Systeme werden auf mathematische Herausforderungen angesetzt. »Es ist atemberaubend, wie schnell sie besser werden«, sagt der Mathematiker Andrew Granville von der Université de Montreal, der bis vor Kurzem noch daran zweifelte, dass diese Technologie bald die mathematische Arbeit wirklich beeinflussen werde.
Viele Forschende gehen inzwischen davon aus, dass sie in den nächsten Jahren mühsame Teile der Beweisführung an die KI auslagern können. Allerdings sind sie sich uneins, ob die neue Technologie jemals die wichtigsten mathematischen Probleme eigenständig wird lösen können.
»Man erlangt nur ein Verständnis, wenn man sich die Hände schmutzig macht«Andrew Granville, Mathematiker
Andrew Granville befürchtet, dass die Auslagerung bestimmter Aufgaben an die KI die Denkfähigkeit der Forschenden beeinträchtigen könnte: »Man erlangt nur ein Verständnis, wenn man sich die Hände schmutzig macht.« Dennoch kritisiert er, dass die meisten seiner Kollegen die neuesten technologischen Entwicklungen ignorieren. So weiterzumachen, warnen einige Fachleute, wäre ein Fehler.
»Die Möglichkeit, langweilige oder mühselige Teile eines Beweises an eine KI auszulagern, wird die Art und Weise, wie wir über Mathematik denken, im Lauf der Zeit drastisch verändern«, sagt der renommierte Mathematiker Akshay Venkatesh, der 2018 mit der Fields-Medaille geehrt wurde und am Institute for Advanced Study in Princeton forscht. Gemeinsam mit anderen Kollegen untersucht er, wie eine KI-gestützte mathematische Zukunft aussehen könnte – und wie sie die Wissenschaft verändern wird. In einer solchen Zukunft werden Mathematiker nicht mehr die meiste Zeit damit verbringen, Theoreme zu beweisen, sondern stattdessen die Rolle des Kritikers, Übersetzers, Dirigenten und Experimentators übernehmen. Die Mathematik könnte sich damit den Laborwissenschaften oder sogar den Kunst- und Geisteswissenschaften annähern.
Sich vorzustellen, wie KI die Mathematik umkrempeln wird, ist nicht nur eine nette Gedankenspielerei. Sie zwingt Fachleute, darüber nachzudenken, was Mathematik im Kern wirklich ist – und wozu sie gut ist.
Wie Werkzeuge das Fach prägen
Sokrates war einer der ersten westlichen Gelehrten, der darüber nachdachte, wie Technologie das Denken hemmen könnte. Seiner Ansicht nach war der immer weiter verbreitete Prozess des Schreibens ein Problem: Er untergrabe die angeborene Fähigkeit der Menschen, sich zu erinnern.
Heute lässt sich Mathematik nicht mehr ohne Schrift betreiben. »Papier funktioniert wie ein externer Speicher«, so Venkatesh. Es hat es den Menschen ermöglicht, Wissen aufzubewahren und weiterzugeben. Selbst die Wahl bestimmter Symbole, um mathematische Konzepte darzustellen, hat zu wichtigen Fortschritten geführt.
Zur Zeit von Sokrates – und auch während der folgenden 2000 Jahre – bestand die westliche Mathematik lediglich aus Geometrie. Die alten Griechen bezeichneten die Mathematik als die Wissenschaft der Dinge, die man zeichnen, messen und zählen kann. Die mathematische Forschung war physisch, geradezu taktil.
»Diese Ansätze sind so mühsam und verworren, dass sie Übelkeit erzeugen«Sir Isaac Newton, Mathematiker und Physiker
Im Jahr 1637 kam der Bruch. Damals veröffentlichte der französische Gelehrte René Descartes seine Abhandlung »Discours de la méthode«. Darin führte er das ein, was später als kartesische Koordinaten bekannt wurde: eine Methode, die geometrische Kurven und Formen in algebraische Gleichungen übersetzt. Die Algebra wurde zu einem Mittel, um bestimmte Probleme auszulagern, die sich geometrisch nicht lösen ließen. Damit entfernte man sich im Westen erstmals von einem physikalischen Verständnis der Mathematik.
Geometrische Interpretation mathematischer Probleme
Bis zum 17. Jahrhundert war die algebraische Schreibweise, die wir heute nutzen, noch nicht erfunden. Die Aufgaben waren damals als Text ausformuliert, etwa in der Form »Finde eine Zahl, deren Kubus hinzuaddiert sechs ergibt« (x3 + x = 6). Anstatt daraus eine Gleichung abzuleiten und diese umzustellen, musste man solche Probleme geometrisch lösen. Für x3 zeichnete man einen Würfel und versuchte auch den Rest der Gleichungen so durch Würfel darzustellen, bis man eine Lösung erhielt. Diese grafische Methode hat – neben ihrer Komplexität – einen weiteren Nachteil: Man kann keine negativen Zahlen damit behandeln. Denn wie sollte man ein geometrisches Objekt mit negativer Länge, negativem Flächeninhalt oder negativem Volumen darstellen? Gleichungen wie x3 − x = 6 waren unlösbar. Man half sich damals damit, das Problem umzuformulieren: x3 = x + 6. Diese Gleichung erforderte eine andere Lösungsformel als die erste. Wollte man also allgemein kubische Gleichungen lösen, musste man zahlreiche Spezialfälle betrachten.
Einige Kritiker waren der Meinung, algebraische Methoden würden die Mathematik in die falsche Richtung führen. Einer von ihnen war Isaac Newton. Diese Ansätze, so schrieb der bekannte Universalgelehrte, seien »so mühsam und verworren, dass sie Übelkeit erzeugen«. Für ihn war die geometrische Intuition von zentraler Bedeutung, wenn es darum ging, etwas wirklich mathematisch zu verstehen. Wenn Fachleute mit algebraischen Symbolen und Abstraktionen arbeiteten, behauptete er, könnten sie unmöglich verstehen, was sie taten, selbst wenn sie vom Gegenteil überzeugt waren.
Anfangs waren die algebraischen Techniken nur ein Mittel zum Zweck. Sie ermöglichten es, über bestimmte Probleme nachzudenken und sie zu lösen. Doch schon bald begannen Mathematiker, die abstrakten Techniken um ihrer selbst willen zu studieren. Das führte zu zahlreichen neuen Erkenntnissen: Zum Beispiel wäre die Infinitesimalrechnung ohne Algebra unvorstellbar. Newton, einer ihrer Erfinder, entwickelte ursprünglich einen algebraischen Rahmen dafür. Wegen seiner philosophischen Ansichten weigerte er sich jedoch, seine Arbeit zu veröffentlichen, bis er einen Weg gefunden hatte, sie geometrisch darzustellen. Die Infinitesimalrechnung wiederum ermöglichte abstrakte Formalismen wie die Mengenlehre, welche die heutige Grundlage der Mathematik darstellt. Auch das eröffnete völlig neue Bereiche.
Die Mathematik entfernte sich allmählich von ihren geometrischen Wurzeln und wurde immer abstrakter. »Heute erscheint die Vorstellung, dass die mathematische Wahrheit in der Geometrie begründet ist, altmodisch«, schrieb Jeremy Avigad von der Carnegie Mellon University in einem 2022 erschienenen Essay. Fachleute gehen aktuelle Probleme mit allen möglichen Methoden an, sowohl algebraischen als auch noch unanschaulicheren Konzepten.
Nicht jedes Detail zählt – oder doch?
Um einen Beweis zu erstellen, beginnen Forschende mit einem soliden Fundament aus Grundannahmen, genannt Axiome. Darauf setzen sie nach und nach Bausteine – weitere Aussagen, die als Lemmata bekannt sind und sich schließlich zu einer logischen Struktur zusammenfügen.
Auf diese übergreifende Struktur kommt es letztlich an: Die Wände, Treppen und Säulen geben dem Beweis seine Form. Aber auch wenn der interessanteste Aspekt eines Beweises sein Bauplan ist – der allgemeine Aufbau des Arguments –, sind auch die Bausteine selbst wichtig. Lemmata sind kleinere Aussagen, die ebenfalls bewiesen werden müssen und auf clevere Weise miteinander kombiniert werden. Ein Lemma kann zum Beispiel eine bekannte Aussage verallgemeinern oder zeigen, dass ein Objekt bestimmte Eigenschaften hat. Ihr lückenloser Nachweis kann dabei einiges an Zeit in Anspruch nehmen, Stunden, Wochen, Monate oder sogar Jahre. Ihr Beweis erfordert vielleicht nicht viel Kreativität, aber er ist trotzdem aufwändig.
In einigen Jahren könnten KI-Modelle (gepaart mit formalen Beweisprüfern) diese Lemmata automatisiert beweisen – ähnlich, wie Mathematiker und Mathematikerinnen aktuell bestimmte arithmetische Aufgaben an Computerprogramme abgeben. Das könnte die Arbeit deutlich erleichtern. Das Fach würde rascher voranschreiten und neue Forschungsbereiche würden sich in viel schnellerem Tempo erschließen. Und auch die mathematische Ausbildung könnte sich dadurch erheblich verändern.
In dieser Vision werden Menschen weiterhin die Architekten neuer mathematischer Kathedralen sein. Doch sie müssten nicht mehr die Bauarbeiter sein, die jeden Ziegelstein, jeden Balken und jeden Nagel selbst anfassen.
Selbst wenn man KI für Aufgaben einsetzt, die Menschen bereits lösen können (wenn auch langsamer), würde das die Mathematik grundlegend verändern – ähnlich wie die Einführung der algebraischen Methoden im 17. Jahrhundert. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie eine solche Zukunft aussehen könnte, hat die Mathematikerin Heather Macbeth vom Imperial College London herkömmliche Beweise mit solchen verglichen, die durch die Programmiersprache Lean formuliert wurden, die ein Beweisassistent prüfen kann. Bei Lean-Beweisen muss jeder Schritt in Computercode übersetzt werden, entweder von Hand oder mit Hilfe von KI. Ein Softwareprogramm kontrolliert dann, ob die Schritte einer gültigen Logik folgen. Wie Macbeth herausfand, lassen sich auf diese Weise mehr Informationen in automatisierte Prozesse verlagern. Dadurch können sich Mathematikerinnen und Mathematiker auf das Verständnis auf höherer Ebene konzentrieren.
»Ich mag das Gefühl nicht, die Details nicht zu verstehen«Daniel Litt, Mathematiker
»Sogar in der beweisbasierten Mathematik gibt es noch viele Aufgaben, die aus Berechnungen bestehen«, so Macbeth. Wenn man diese Teile eines Beweises an Computer abgibt – sei es durch Lean oder ein KI-System –, können sich Fachleute darauf konzentrieren, Erklärungen zu liefern und die wichtigsten Ideen zu vermitteln. Damit müssen sie sich weniger mit Details beschäftigen, die in den Zuständigkeitsbereich der KI fallen. Das würde einen bedeutenden Kulturwandel bedeuten: Die Mathematiker müssten sich nicht mehr so sehr um fachliche Strenge bemühen.
»Es gäbe eine Art Abgrenzung zwischen der Strenge auf dem Papier und der Strenge im Kopf«, sagt Daniel Litt von der University of Toronto. »Dann würde ich Dinge nur noch in einem ganzheitlichen Sinn verstehen und nicht mehr alle Einzelheiten kennen.« Doch meist sind Mathematiker durch ihr Temperament oder ihre Ausbildung von Natur aus dazu veranlagt, sich detailliert mit den Inhalten zu beschäftigen. »Ich mag das Gefühl nicht, die Details nicht zu verstehen«, räumt Litt ein. Ähnlich wie Sokrates vor mehr als 2000 Jahren befürchten einige Fachleute heute, es könnte sich negativ auf ihre Denkfähigkeit auswirken, wenn sie ihre Detailliebe aufgeben. »Ich habe den Eindruck, dass mein eigenes Verständnis nicht von einem größeren Bild kommt, sondern davon, dass man sich die Hände schmutzig macht«, stellt Granville fest. »Die Kraft der Abstraktion ist am besten bei Menschen aufgehoben, die auch etwas von der Praxis verstehen.«
Annäherung an andere Wissenschaften
Mathematiker mögen sich unwohl fühlen, wenn sie nicht jedes Element ihrer Beweise verstehen. Aber es gibt viele Beispiele für äußerst erfolgreiche Forschungsprogramme, bei denen keine Person in der Lage ist, jedes einzelne Detail zu überblicken. In der Teilchenphysik haben beispielsweise mehr als 3000 Autorinnen und Autoren an den Veröffentlichungen mitgewirkt, die den Nachweis des Higgs-Bosons verkündeten. Und auch in der Mathematik trugen im Lauf des 20. Jahrhunderts mehr als 100 Forschende zu einem gewaltigen Beweis bei, der mehr als 10 000 Seiten füllt.
Künstliche Intelligenz könnte diese Art von mathematischen Projekten zur Regel statt zur Ausnahme machen und somit große Kooperationen ermöglichen – im Gegensatz zum heute so häufigen Einzelkämpferdasein. Damit ließen sich Fragen angehen, die vorher nicht gestellt werden konnten.
Um herauszufinden, wie eine solche Zukunft aussehen könnte, hat der renommierte Mathematiker Terence Tao von der University of California in Los Angeles im Herbst 2024 das »Gleichungstheorien-Projekt« gegründet. Dafür betrachtete er zunächst ein einfaches mathematisches Objekt, das er Magma nannte: eine Menge von Elementen, zusammen mit einer Regel, der zufolge die Kombination zweier beliebiger Elemente ein drittes Element aus der Menge ergibt. Damit kann beispielsweise die Addition, die Multiplikation oder eine weniger bekannte Operation gemeint sein. Eines der zentralsten Objekte in der Mathematik, eine Gruppe, ist ein Beispiel für ein Magma.
Gruppentheorie für Einsteiger
Am einfachsten lässt sich eine Gruppe als Menge von Symmetrietransformationen veranschaulichen. Rotiert man beispielsweise ein gleichseitiges Dreieck um 120°, ändert sich dessen Form nicht. Ein solches Dreieck kann um insgesamt drei Winkel gedreht werden (0°, 120° und 240°). Jede dieser Drehungen ist eine Symmetrietransformation. Zusammen bilden sie eine endliche Gruppe.
Neben den Drehungen kann das Dreieck auch entlang seiner Mittelachse gespiegelt werden. Die genannten Drehungen und Spiegelungen bilden jeweils für sich »Untergruppen« der gesamten Symmetriegruppe des Dreiecks.
Streng genommen ist eine Gruppe aber abstrakter definiert. Sie definiert eine Menge, deren Elemente gewissen Regeln genügen: Die Verknüpfung zweier Elemente (etwa die Hintereinanderausführung zweier Drehungen) muss wieder ein Gruppenelement ergeben. Jede Gruppe enthält zudem ein »neutrales Element«, das jedes andere unverändert lässt, wie etwa die Multiplikation mit eins oder die Addition mit null. Darüber hinaus muss jedes Element auch ein Gegenstück (»inverses Element«) besitzen, so dass die Verknüpfung beider wieder das neutrale erzeugt – zum Beispiel muss man jede Drehung auch in umgekehrter Richtung ausführen können.
Was genau die Elemente der Gruppe sind, spielt dabei keine Rolle. Es kann sich um Symmetrietransformationen wie Drehungen und Spiegelungen handeln, aber auch um Zahlen. So bilden etwa die rationalen Zahlen (ohne die Null) mit der Multiplikation eine Gruppe: Die Verknüpfung (das Produkt) zweier rationaler Zahlen liefert stets ein rationales Ergebnis; das neutrale Element ist die Eins und das inverse Element der Kehrwert einer Zahl.
Tao hat Tausende von Aussagen aufgestellt, die beschreiben, wie sich die Elemente in einem bestimmten Magma verhalten. So könnten sie etwa kommutativ sein, was bedeutet, dass die Reihenfolge, in der sie kombiniert werden, für das Ergebnis keine Rolle spielt. Oder die Kombination eines Elements mit sich selbst könnte stets dasselbe Element ergeben. »Jede Aussage ist für sich genommen ein langweiliges Objekt«, sagt Tao. Er wollte jedoch verstehen, wie all diese Aussagen miteinander zusammenhängen. Wenn ein Magma eine Aussage erfüllt, muss es das vielleicht auch für eine ganze Reihe weiterer Aussagen tun.
Insgesamt gab es 22 Millionen mögliche mathematische Folgerungen oder Implikationen unter all den Aussagen (etwa: Wenn ein Magma Eigenschaft A besitzt, hat es auch automatisch Eigenschaft B). Tao wollte herausfinden, welche davon wahr und welche falsch sind. »Ohne Computer wäre diese Aufgabe unmöglich gewesen«, erklärt Adam Topaz von der University of Alberta, der nicht an dem Projekt beteiligt war. Innerhalb weniger Monate hatten mehr als 50 Freiwillige die Wahrheit oder Unwahrheit aller Implikationen bewiesen. Einige setzten dafür KI-gestützte Methoden ein, andere lösten die Implikationen per Hand. Damit hat die Fachwelt eine riesige Menge an neuen Zusammenhängen zur Hand, die sie nun untersuchen kann.
Das gibt einen Vorgeschmack darauf, wie die KI-gestützte mathematische Forschung womöglich aussähe. »Wenn wir in Zukunft ein mathematisches Gebiet erforschen, könnte man zunächst eine KI Millionen Probleme untersuchen lassen und sich einen ersten Überblick über die Landschaft verschaffen«, sagt Tao. »Dann können Menschen entscheiden, welchen Inhalten sie ihre Aufmerksamkeit widmen wollen.«
»Wir wären eher wie Physiker«, erklärt Granville. »Wir würden zuerst unsere Vermutung äußern und dann hoffen, dass sie richtig ist. Das ist ein ganz anderer Ansatz, bei dem man oft falschliegt und nur gelegentlich ins Schwarze trifft.« Wie in der Physik und anderen Experimentalwissenschaften könnte es auch in der Mathematik zu einer stärkeren Arbeitsteilung kommen.
»Es wird mehr Gruppenprojekte geben, bei denen keine einzelne Person alles weiß, was vor sich geht, aber bei denen die Menschen gemeinsam viel mehr erreichen können als jeder Einzelne«Terence Tao, Mathematiker
Gegenwärtig ist ein Mathematiker für alle Aufgaben von Anfang bis Ende verantwortlich: das Entwickeln neuer Ideen, das Beweisen von Lemmata und Theoremen, das Verfassen von Beweisen und das Kommunizieren der Ergebnisse. Das wird sich mit KI sehr wahrscheinlich ändern. Einige Fachleute könnten weiterhin von Hand rechnen, wenn die Fähigkeiten der KI-Systeme nicht ausreichen. Manche könnten Theorien entwickeln, die getestet werden sollen, oder Vermutungen in Computersprachen wie Lean übersetzen. Wieder andere könnten sicherstellen, dass das, was die KI beweist, auch wirklich das ist, was man zeigen wollte (eine unglaublich schwierige Aufgabe), oder die vielen Mitarbeitenden eines Projekts koordinieren – oder die automatisierten Beweise erklären. Die Aufgaben sind vielfältig. »In der Physik oder Chemie gibt es Leute, die Theorien aufstellen, und solche, die Experimente durchführen, und beide schätzen die jeweils andere Seite«, sagt der Mathematiker Johan Commelin von der Universität Utrecht. Dies sei nun in der Mathematik auch möglich.
»Es wird mehr Gruppenprojekte geben, bei denen keine einzelne Person alles weiß, was vor sich geht, aber bei denen die Menschen gemeinsam viel mehr erreichen können als jeder Einzelne«, sagt Tao. »So funktioniert auch der Rest der modernen Welt.«
Das Ende der Mathematik?
In der Regel ist es Geschmackssache, was als bedeutende mathematische Frage gilt. Im Grunde genommen ist die Frage »Was ist Mathematik?« gleichbedeutend mit »Was halten Mathematiker für wichtig?«. Je einfacher es wird, bestimmte mathematische Probleme zu lösen, desto weniger schätzen Fachleute diese, so Venkatesh. »Es ist wie mit der Mode«, meint Alex Davies, Forscher bei DeepMind. »Sobald man die Technologie hat, um Haute Couture sehr leicht zugänglich zu machen, und sie zum Massenmarkt wird, wird sie weniger angesagt.«
KI-Systeme könnten sich für bestimmte Probleme besser eignen, was diese dann weniger interessant macht. Es ist unklar, welche Themen zuerst betroffen wären. Probleme, bei denen es darum geht, optimale Lösungen für Funktionen zu finden, waren beispielsweise einst ein zentraler Bestandteil der reinen Mathematik, zu der die Analysis und die Algebra zählen. Doch Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Entwicklung computergestützter Techniken, wurden Optimierungsbeweise oft auf Berechnungen reduziert. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf die Anwendung dieser Computertechniken. Optimierungsprobleme sind heute zwar immer noch wichtig, gehören aber eher in den Bereich der angewandten Mathematik. Es geht also nicht mehr um das Erforschen von Ideen oder Konzepten um ihrer selbst willen; vielmehr werden sie als Mittel für ein bestimmtes, praktisches Ziel eingesetzt.
Künstliche Intelligenz eignet sich besonders für Fragen der Optimierung und andere Bereiche, die eher konkret sind oder bei denen immer wieder dieselben Beweistechniken verwendet werden. Einige Fachleute sind zum Beispiel der Meinung, dass KI die Kombinatorik, das heißt die mathematische Lehre vom Zählen, verändern könnte. Andere glauben hingegen, es würden sich jene Gebiete am einfachsten automatisieren lassen, die eher symbolische Darstellungen erfordern, wie die Algebra.
Mit KI zur Selbsterkenntnis
Die neuen Technologien prägen jetzt schon die Arbeit von Fachleuten. So hat Litt durch die Arbeit mit KI etwa erkannt, dass es in der Mathematik viel mehr darum geht, eine riesige Sammlung von Fakten parat zu haben und sie auf passende Weise zusammenzubringen – und nicht darum, einen Heureka-Moment zu haben. »Vieles von dem, was ich für schwierig halte, hat mehr mit Gedächtnis und Wissen zu tun als mit Kreativität«, erklärt er. »Das hat mein Verständnis über das erschüttert, was wir tun oder was einen guten Mathematiker ausmacht. Jetzt denke ich, dass das meiste von dem, was ich tue, darin besteht, ein paar Fakten zusammenzufügen, die auf Standardwegen bekannt sind. Und ab und zu gibt es dann tatsächlich einen kreativen Teil meiner Arbeit. Ich stelle eine Analogie her oder entwickle eine neue Definition.« Deshalb liege ein Großteil seiner Arbeit in der Reichweite einer Maschine.
Vielleicht werden Mathematiker künftig die meiste Zeit damit verbringen, die Beweise zu verstehen, die ein KI-System erzeugt – eine Aufgabe, die viel Zeit, Mühe und Einfallsreichtum erfordern wird. Mark Kisin von der Harvard University geht davon aus, dass sich das Fachgebiet in den nächsten 10 bis 100 Jahren stärker an die Geisteswissenschaften annähern wird. »Wenn man sich einen typischen Anglistikbereich an einer Universität anschaut, ist er normalerweise nicht mit Leuten besetzt, die literarisch schreiben«, sagt er. »Stattdessen kritisieren sie Literatur.« In ähnlicher Weise könnten Mathematiker die Rolle von Kritikern übernehmen, die KI-Beweise genau analysieren und sie dann in Seminaren lehren, erläutert er. Dazu passt ein Gespräch, das Ronen Eldan, der das Weizmann Institute of Science zu Gunsten einer Anstellung bei OpenAI verlassen hat, mit einem Kollegen führte. Dieser prophezeite: »Mathematiker werden wie heutige Pianisten sein. Sie spielen nicht ihre eigenen Kompositionen, aber die Leute kommen trotzdem, um sie zu hören.«
»Ich denke, das wäre ein Schlag für mein Ego, aber ich glaube nicht, dass ich mich darüber aufregen würde«Daniel Litt, Mathematiker
Selbst in diesem Szenario wird es für Mathematiker noch viel zu tun geben: von der Entwicklung neuer Definitionen und Abstraktionen bis hin zur Entscheidung, welche neuen Forschungsrichtungen verfolgt werden sollten. »Es wird in gewisser Weise das Ende der Forschungsmathematik sein, wie sie derzeit praktiziert wird. Aber das bedeutet nicht, dass es das Ende der Mathematiker sein wird«, sagt Litt. »Ich denke, das wäre ein Schlag für mein Ego, aber ich glaube nicht, dass ich mich darüber aufregen würde«, fügt er hinzu. »Wenn ein KI-Sprachmodell die riemannsche Vermutung beweisen und mir den Beweis erklären kann, würde ich gerne alles darüber erfahren. Denn als Mathematiker möchte ich vor allem verstehen, was wahr ist und warum es wahr ist.«

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