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Computergestützte Biologie: Wie ein mathematisches Modell Korallenriffe retten könnte

Eine einzige Korallenart kann viele verschiedene Formen bilden. Bislang war unklar, wie und warum. Ein Team aus Physikern und Biologen hat das Rätsel nun möglicherweise geknackt.
Eine lebendige Unterwasseraufnahme eines Korallenriffs mit einer Vielzahl bunter Korallen in Rot, Gelb, Lila und Orange. Kleine Fische schwimmen zwischen den Korallen. Die Szene zeigt die Vielfalt und Schönheit des Meereslebens.
Korallen kommen ausschließlich im Meer vor, insbesondere im Tropengürtel. Man unterscheidet zwischen Weichkorallen und Steinkorallen. Letztere bilden durch Einlagerungen von Kalk Skelette und lassen so die bekannten Korallenriffe entstehen.

Länger, als sie sich erinnern kann, geht Eva Llabrés schnorcheln. Ihre erste Taucherbrille und ein Paar Schwimmflossen bekam sie von ihrem Großvater, einem Fischhändler von der spanischen Insel Menorca. Während ihrer Kindheit war sie immer wieder im Mittelmeer unterwegs und beobachtete Tintenfische, Aale, Seegras und leuchtende Seesterne. Trotz ihrer Liebe für das Meer zog sie in der Schule aber die Fächer Physik und Mathematik vor. Während ihres Studiums in Barcelona las sie sich in die Geheimnisse von Schwarzen Löchern und Quantengravitation ein.

Doch nach ihrer Promotion wurde Llabrés bewusst: Sie will auf den Boden der Tatsachen zurückkehren – und landete erneut im Ozean. Fortan widmete sie sich der Physik der Korallenriffe.

Korallen sind gleich zwei Dinge auf einmal. Einerseits handelt es sich um eine versteinerte Unterwasserstruktur, die sich oft über weite Teile des Meeresbodens erstreckt und vielen unterschiedlichen Meereslebewesen ein Zuhause gibt. Andererseits sind Korallen auch Tiere, die während ihres Lebens die prägenden Strukturen aufbauen: anemonenartige Polypen von weniger als einem Zentimeter Länge. Wenn sich die Kalziumkarbonatschalen mehrerer Polypen übereinanderlegen, dann wölben, verzweigen, kräuseln sie sich und fächern sich zu den unterschiedlichsten Formen auf. Sie sehen dadurch aus wie Regale, Felsen, Säulen, Äste oder blumenkohlartige Knubbel.

Warum aber bilden Korallen des gleichen Typs unterschiedliche Formen? Eine einzige Art kann je nach Bedingung viele verschiedene Strukturen erzeugen. Schlichte Umweltfaktoren wie Licht und Wasserströmung reichen nicht aus, um diese Vielfalt zu erklären.

Was Korallenforscher wirklich bräuchten, wäre ein Computermodell, das simuliert, wie Polypen durch einfache physikalische Regeln zu komplexen Strukturen heranwachsen. Ein solches Werkzeug könnte ihnen helfen zu verstehen, wie Riffstrukturen entstehen und wie sie sich verändern. Und nicht zuletzt könnte es ihre Bemühungen unterstützen, verloren geglaubte Korallenriffe gezielt wiederherzustellen.

Um ihr mathematisches Fachwissen einzubringen, hat Eva Llabrés sich mit Meeresbiologen zusammengetan. In einer 2024 veröffentlichten Studie machte das Team Fortschritte auf dem Weg zu einem »universellen« Korallenwachstumsmodell. Auf der Grundlage biologischer Beobachtungen, etwa wie und wann Polypen knospen, zerlegt das Programm eine Korallenstruktur geometrisch und kann mit nur fünf Wachstumsvariablen die fünf häufigsten Korallenformen vorhersagen.

Die präzisen physikalischen Regeln von Llabrés reproduzieren reale Korallenmuster, ohne dass eine spezielle Programmierung erforderlich ist. Anna Vinton, Ökologin an der University of Southern California, zeigt sich beeindruckt: »Das Team hat ein Rezept entwickelt, bei dem man nur wenige Zutaten hinzufügen muss, um viele verschiedene Korallenformen zu erzeugen. Mir gefällt diese schlichte Eleganz«, sagt sie. »Es scheint, dass die Kollegen einige der grundlegenden Prinzipien des Korallenwachstums richtig erfasst haben.«

Und Jaap Kaandorp, ein Computerbiologe von der Universität Amsterdam, der selbst daran forscht, das Wachstum von Korallen bestmöglich zu simulieren, sagt: »Jeder Computerbiologe möchte das schaffen: mit einem einfachen Modell so viel wie möglich erklären. Der Zusammenhang von Struktur und Funktion sowie die Frage, wie die individuelle Gestalt eines Lebewesens entsteht, sind die grundlegendsten Fragen der Biologie.«

Es gibt viele unmittelbare Einsatzmöglichkeiten für solche Modelle. Die Folgen des Klimawandels wie Hitzewellen, der Anstieg des Meeresspiegels und die Versauerung der Ozeane bedrohen die Korallentiere, ihre Kalziumkarbonatstrukturen und die davon abhängigen Ökosysteme. Würden Fachleute das Wachstum dieser Organismen verstehen, könnten sie besser vorhersagen, wie man Korallen am Leben halten kann.

Komplexe Koloniemuster

Llabrés' Vorstoß in die Ökologie begann mit einer anderen meeresbewohnenden Art, die Flachwasser-Ökosysteme prägt: Seegras. Schon seit den 1970er Jahren modellieren Computerbiologen das Wachstum von Pflanzen wie Gräsern und Bäumen. Llabrés wechselte ans Institute for Cross-Disciplinary Physics and Complex Systems auf Mallorca, um an einem darauf aufbauenden Projekt mitzuarbeiten. Dieses leiten Tomàs Sintes und der Meeresbiologe Carlos Duarte von der King Abdullah University of Science and Technology in Saudi-Arabien. Während der Forschungsarbeiten fiel einem Mitarbeiter auf, dass Seegräser komplexe Koloniemuster aus knospenden Klonen bilden – genau wie Korallen. »Daraufhin sagten wir: Lasst uns versuchen, das, was wir wissen, auf Korallen anzuwenden«, erinnert sich Llabrés.

Das Team wollte verstehen, welche mathematischen Regeln die häufigsten Korallenstrukturen hervorbringen. Die Regel, die das Wachstum einer hohen und schmalen Säule und einer kuppelartigen Koralle verursacht, muss tief in der biologischen Programmierung eines Polypen verankert sein, dachten die Fachleute. Man kann es auch als ein Optimierungsproblem betrachten: Wie viele Variablen sind mindestens nötig, um die größtmögliche Anzahl an Formen zu simulieren?

Auf der Suche nach einer Antwort griffen sie zunächst auf das Fachwissen der Meeresbiologen zurück. Wenn diese sagen, dass Korallen »wachsen«, beziehen sie sich auf zwei Prozesse: Expansion und Klonierung. Bei der Expansion lagern einzelne Polypen Kalziumkarbonat unter ihrem Körper in einer schalenartigen Form ab, die sich stetig vergrößert. Ist der Abstand zwischen zwei Polypen groß genug, bilden sich in der Lücke ungeschlechtlich neue Polypen aus – Klone –, welche die Struktur in eine neue Richtung erweitern.

Dies zeigte den Forschern, dass jegliche Korallenstruktur ihre Form von den mikroskopischen Veranlagungen der Polypen erhält. Ein einzelner Polyp kann wachsen und dann nach oben, unten oder zur Seite Klone ausbilden. Aber in der Gesamtheit erscheinen sie organisiert – sie fächern sich zu Blättern auf oder ragen wie Ranken heraus. Massige Kolonien wachsen horizontal und vertikal mit vergleichbarer Geschwindigkeit nach außen, wie sich aufblähende Ballons; Säulenkolonien scheiden ihre Skelettbestandteile mehr oder weniger vertikal aus. Beispiele wie diese brachten Llabrés auf eine biologische Logik, die sie anschließend in die Sprache der Mathematik übersetzte.

Von der Biologie in mathematische Sprache

Zunächst formalisierte sie die Grundstruktur der Koralle: Statt aus Polypen besteht diese in der mathematischen Sprache aus sechseckigen, pyramidenartigen Objekten – spitz wie ein Kegel mit einer sechseckigen Basis –, die sie »Hexakegel« nannte. Jeder Scheitelpunkt stellt einen Polypen dar, und die Linien, die sie verbinden, bilden ein Flickwerk aus Dreiecken. Llabrés stellte Regeln auf, um zu bestimmen, was mit den Hexakegeln passiert, wenn sich die digitale Koralle ausdehnt.

Die erste Regel beschreibt die Klonierung: Die Polypen driften auseinander, bis der Raum zwischen ihnen eine kritische Größe erreicht, woraufhin eine neue Polypengeneration in diesem Zwischenraum erscheint. Eine andere Regel legt die Ausdehnung des Hexakegels fest auf der Grundlage, wie und wo die Polypen Kalzium einlagern. Und eine dritte Regel bestimmt, wie eine Untergruppe von Polypen Verzweigungen bilden kann, die seitlich aus dem Rest der Koralle herausragen.

Die Prinzipien des Klonens, der Expansion und der Verzweigung führten Llabrés schließlich zu den wichtigsten Variablen für ihr mathematisches Modell. Die Rate der Ablagerung von Kalziumkarbonat beschreibt die Ausdehnung. Der Abstand zwischen den Polypen ist entscheidend für die Simulation des Klonens. Für die Verzweigung sind sowohl der Winkel, in dem die Zweige herausragen, als auch der Abstand zwischen diesen von Bedeutung. Das sind vier Variablen, von denen jede eine klar definierte Rolle spielt.

Llabrés vermutete allerdings schon bald, dass ihr eine weitere Variable fehlte, die das Gesamtwachstum einer Struktur in vertikaler oder horizontaler Richtung beeinflussen könnte – ein Faktor, der darüber entscheidet, ob flache, bauchige oder säulenartige Formen entstehen. Sie befürchtete, dass dies einer Variablen, die nur einen Wert zwischen 0 und 1 annehmen kann, zu viel abverlangen würde.

Nach stundenlangem Herumhantieren mit dem Code auf ihrer Tastatur hatte sie es schließlich geschafft. Die Variable »Wachstumsmodus« schien ausreichend leistungsfähig. Sie ermöglicht es den Polypen in Llabrés' Modell, je nach ihrer Position in der Kolonie unterschiedlich zu wachsen. Als sie den Wert veränderte, bekam sie »sehr schnell eine massige Struktur und gleich darauf eine Säule«, erinnert sie sich. Dann folgten auch die blumenkohlartigen Knubbel, das Regal und die astartige Verzweigung. »Ich dachte sofort: ›Wow, ich glaube, ich habe hier etwas Großes entdeckt‹«, erzählt sie.

Vielfalt der Strukturen

Eleonora Re, Mitautorin der Studie und Doktorandin in Carlos Duartes Team im Bereich Meeresbiologie, führte Anfang 2025 Experimente im Roten Meer durch, um das Modell des Teams mit realen Korallendaten zu überprüfen. Bisher stimmen die Vorhersagen der Simulation mit den echten Korallen überein. Das zumindest zeigen die vorläufigen Ergebnisse, die noch im Jahr 2025 veröffentlicht werden sollen.

Der Komplex aus fünf Variablen kann mehr Korallenformen reproduzieren als jedes andere Modell zuvor, einschließlich der Modelle von Jaap Kaandorp. Allerdings lassen sich damit letztlich auch nur fünf der unzähligen bekannten Formen simulieren. »Die ganze Vielfalt der Strukturen, die man in der Natur sieht, nachzubilden, ist eine immense Herausforderung«, sagt der Computerbiologe.

»Es bleibt ein Modell, daher kann es nicht die gesamte Komplexität der Korallen erfassen«Anna Vinton, Ökologin

Anna Vinton findet die Arbeit trotz dieser Begrenzung spannend: »Es bleibt ein Modell, daher kann es nicht die gesamte Komplexität der Korallen erfassen. Aber es berücksichtigt schon eine ganze Menge, wenn man bedenkt, wie einfach das mathematische Gerüst ist.« Es zeige zudem eindrücklich, wozu die theoretische Ökologie fähig ist, fügt sie hinzu. »Solche Modelle können als Leitfaden für Hypothesen darüber dienen, was man möglicherweise in der realen Welt entdecken kann.«

Korallenriffe gibt es schon seit Millionen von Jahren, und viele der heute existierenden Riffe sind bereits etliche tausend Jahre alt. Korallen sind eindeutig Überlebenskünstler. Das liegt daran, dass sie biologisch darauf programmiert sind, sich an neue Bedingungen anzupassen – eine Fähigkeit, die als Plastizität bezeichnet wird –, indem sie ihre Physiologie und ihr Wachstum anpassen, um mit Veränderungen fertigzuwerden.

Die Plastizität unterscheidet sich von der Evolution, weil sie innerhalb der Lebenszeit eines Individuums stattfindet. Zu verstehen, wie und woran sich ein Polyp anpasst, kann Biologen daher helfen, die Grenzen der Anpassungsfähigkeit in einer Ära beispielloser Veränderungen zu erfassen. Wie schnell wachsen die Korallen? Wie dicht können Polypen zusammenstehen? Welche Formen nehmen die Kolonien an, um sich in unterschiedliche Umgebungen einzugewöhnen?

Umwelteinflüsse spielen auch eine Rolle

Vinton fragt sich, ob bestimmte Strukturen von Natur aus flexibler sind als andere. »Die Form der Koralle kann ihre evolutionäre Anpassungsfähigkeit in verschiedenen Umgebungen bestimmen«, erklärt sie. Wenn eine Koralle von einer starken Welle erfasst wird und ein Stück abbricht, kann dieses Stück zu einer neuen Kolonie heranwachsen. Das ist eine Form der ungeschlechtlichen Vermehrung, die es Arten ermöglicht, neue Gebiete zu besiedeln. Form und Dicke spielen dabei eine Rolle; eine Koralle mit zerbrechlichen Ästen wird sich eher auf diese Weise vermehren als eine massive Koralle. Der Unterschied zwischen zwei Strukturen kann also über die Zukunft eines Riffs entscheiden.

Das interne Wachstumsprogramm der Polypen ist jedoch nicht alles. Während das Modell von Llabrés eine vermeintliche genetische Veranlagung für bestimmte Formen wiedergibt, ist die Umgebung in Wirklichkeit genauso wichtig für das Wachstum der Korallen – wenn nicht sogar noch wichtiger. Züchtet man beispielsweise eine Korallenart in sonnenbeschienenem, flachem Wasser, erklärt Kaandorp, wird sie sich ganz anders entwickeln als in tieferem, dunklem Wasser. »Es gibt eine direkte Verbindung zwischen dem Wachstumsprozess und den Umwelteinflüssen«, sagt er.

»Das Modell kann dann ein Werkzeug sein, um vorherzusagen, was unter veränderten Umweltbedingungen mit den Riffen passieren wird«Eva Llabrés, Physikerin

Llabrés' nächster Schritt besteht deshalb darin, Umweltfaktoren wie die Wasserströmung oder die Lichtintensität in ihre Modelle einzubeziehen. »Das sind die beiden wichtigsten Größen, von denen bekannt ist, dass sie die Korallen beeinflussen«, sagt die Wissenschaftlerin, die inzwischen am Hawai'i Institute of Marine Biology arbeitet. »Das Modell kann dann ein Werkzeug sein, um vorherzusagen, was unter veränderten Umweltbedingungen mit den Riffen passieren wird.«

Solche Instrumente können Biologen dabei helfen, Korallenriffe in Formen wieder aufzubauen, die auch langfristig Erfolg versprechen und die Widerstandsfähigkeit des Ökosystems erhöhen. »Dieses Verständnis ist entscheidend dafür, vorherzusagen, wie Korallen künftig auf den fortschreitenden Klimawandel reagieren könnten«, führt Anna Vinton aus, »und welche Arten mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung benötigen.«

Eva Llabrés hat die Auswirkungen des Klimawandels im Mittelmeer über Jahrzehnte beim Schnorcheln beobachtet. »Ich kann die Veränderungen gewissermaßen live verfolgen – der Zustand des Ökosystems verschlechtert sich zunehmend«, sagt sie. »Einige Tier- und Pflanzenarten scheinen für immer verloren zu sein.« Aber seit sie durch die physikalisch eingefärbte Brille schaut, hat sich auch ihr Blick auf das Meeresleben verändert. »Ich sehe deutlicher, wie widerstandsfähig die Natur ist; oft findet sie Wege, sich anzupassen und zu gedeihen – auf eine Weise, die ich nicht erwartet hätte.«

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  • Quellen

Kaandorp, J., Sloot, P.: Morphological models of radiate accretive growth and the influence of hydrodynamics. Journal of Theoretical Biology 209, 2001.

Llabrés, E. et al.: A generalized numerical model for clonal growth in scleractinian coral colonies. Proceedings of the Royal Society B 291, 2024

Suggett, D. et al.: Restoration as a meaningful aid to ecological recovery of coral reefs. npj Ocean Sustainability 3, 2024.

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